lautstark. 27.01.2023

Die Rolle der sozialen Medien ist zentral

MedienkompetenzPolitische Bildung

Revolutionen und gesellschaftliche Veränderungsprozesse

Als Facebook-Revolution wurden 2010 die Umbrüche in Ägypten und Tunesien bezeichnet. Welchen Anteil haben soziale Medien an Revolutionen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen heute? Und insbesondere derzeit in Iran? Wir haben darüber mit Marcus Michaelsen, Experte für digitale Medien und Iran-Forscher, gesprochen.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2023 | Medien – Kritisch und kompetent konsumieren
  • im Interview: Marcus Michaelsen
  • Funktion: Promovierter Medien- und Kommunikationswissenschaftler
  • Interview von: Vanessa Glaschke
  • Funktion: Redakteurin im NDS Verlag
Min.

Welchen Anteil haben soziale Medien an Revolutionen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, wie sie beispielsweise derzeit in Iran stattfinden?

Marcus Michaelsen: Für die aktuellen Proteste in Iran sind soziale Medien zentral, zum einen für die Kommunikation der Menschen im Landesinneren, aber auch für Kontakte mit der Außenwelt und der internationalen Öffentlichkeit. Im Land sind soziale Netzwerke und Messenger-Dienste sehr wichtig für die Kommunikation der Protestierenden untereinander.

Dabei geht es nicht zwangsläufig um die Organisation von Protesten. Viele dieser Demonstrationen sind eher spontan und bringen keine großen Menschengruppen zusammen, da große Ansammlungen von den Regimekräften sehr schnell angegriffen und unterdrückt werden. Vielmehr geht es um die Selbstvergewisserung der Protestierenden untereinander, also darum, die Motivation und den Zusammenhalt aufrechtzuerhalten.

In den sozialen Medien können die Menschen immer wieder sehen, dass viele andere genauso denken wie sie und das Regime ablehnen. In der akuten Phase der Proteste geben die Fotos, Videos und Berichte von Protesten und Widerstand einigen vielleicht auch den Mut, trotz der beängstigenden Gewaltbereitschaft des Regimes auf die Straße zu gehen. Dass ein Austausch stattfindet, sieht man auch daran, dass die Slogans der Bewegung, die Graffiti und andere Formen des Widerstands sich in den unterschiedlichen Landesteilen ähneln.

Darüber hinaus erzeugen natürlich die Bilder von staatlicher Gewalt, vom brutalen Vorgehen gegen demonstrierende Frauen und Jugendliche auch Entrüstung innerhalb der Gesellschaft. Dadurch steigt die Ablehnung des Regimes in der Bevölkerung. Bei der nächsten Gelegenheit könnten sich wieder mehr Menschen den Protesten anschließen.

Und welche Rolle spielen Informationen über die Proteste, die über soziale Medien geteilt werden, für die internationale Öffentlichkeit?

Marcus Michaelsen: Die Verbindungen aus dem Land heraus sind natürlich sehr wichtig, um internationale Medien und die internationale Öffentlichkeit über die Ereignisse zu informieren. Eine unabhängige Berichterstattung durch ausländische Medien ist in Iran nicht möglich. Lokale Journalist*innen wurden reihenweise
verhaftet. Daher sind Bilder und Videos aus den sozialen Medien für uns hier im Ausland meist die einzige
Informationsquelle zu den Ereignissen vor Ort.

Soziale Medien helfen Menschenrechtsorganisationen, das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung nachzuverfolgen und Menschenrechtsvergehen zu dokumentieren. Das kann für eine spätere
Aufarbeitung und zumindest die Benennung und Sanktionierung bestimmter Täter*innen sehr relevant sein. Gleichzeitig sind die Berichte etwa in den deutschen Medien auch wichtig, um das Interesse der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten und damit auch einen gewissen Druck auf die Politik zu erzeugen.

Eine zentrale Rolle hierbei spielen auch in Deutschland lebende Iraner*innen, die als Journalist*innen oder Aktivist*innen mit der Funktionsweise der hiesigen Medien und politischen Institutionen vertraut sind und über gute Kontakte verfügen. Sie können die Inhalte aus den sozialen Medien quasi übersetzen. Das meine ich nicht nur sprachlich, sondern auch in Bezug auf die Zusammenstellung, Auswahl und Weiterleitung von wichtigen Nachrichten oder Forderungen der Protestbewegung. Durch eine solche Berichterstattung kann beispielsweise auf die deutsche Regierung eingewirkt werden, ihre bisherige Iranpolitik zu überdenken, Solidarität mit den Menschen in Iran zu demonstrieren und entsprechende politische Maßnahmen zu treffen.

Und schließlich spielen auch iranische Auslandsmedien eine wichtige Rolle dabei, die Inhalte aus den sozialen Medien zu sammeln und wieder in den Iran zurückzuspiegeln. Fernsehsender wie BBC Persian werden in Iran von vielen Millionen Menschen per Satellit empfangen. Diese Medien haben aber natürlich keine Korrespondent*innen vor Ort. Das heißt, auch sie bauen ihre Berichterstattung auf Inhalte aus dem Internet und die Kommunikation mit Menschen vor Ort auf. So können sie die Zensur der staatlichen iranischen Medien
umgehen und der Bevölkerung eine Alternative bieten.

Welche Entwicklung haben soziale Medien seit dem Arabischen Frühling durchlaufen?

Marcus Michaelsen: Die Ereignisse des Arabischen Frühlings, aber auch die Proteste der Grünen Bewegung 2009 in Iran oder die Gezi-Proteste 2013 in Istanbul waren eine Art Weckruf für autoritäre Machthaber*innen weltweit. Bei all diesen Protestbewegungen spielten soziale Medien eine wichtige Rolle, um innerhalb kurzer Zeit Menschen zu mobilisieren und ihre Forderungen, ihren Widerstand in eine globale Öffentlichkeit zu tragen.

Zwar wurde das Internet auch schon zuvor in vielen Ländern zensiert, doch nach diesen Ereignissen bauten viele Regierungen die Zensur und Kontrolle von sozialen Medien und Internet noch einmal deutlich aus. Zugleich lernten sie verstärkt, diese Technologien auch für eigene Zwecke einzusetzen, etwa zur Überwachung, für Propaganda oder Desinformationskampagnen. Autoritäre Regime setzen heute Spionagesoftware ein, um Dissident*innen auch im Exil weiter auszuhorchen. Sie nutzen bezahlte „Trolle“ und künstliche Profile, um die Inhalte von sozialen Medien massiv zu beeinflussen, kritische Stimmen zu übertönen und Oppositionelle zu diffamieren.

Zur Zeit des Arabischen Frühlings war aber auch bei uns im Westen die Sicht auf das Internet noch viel positiver. Dem Netz wurde eine liberalisierende Wirkung zugeschrieben. Die Umbrüche in Tunesien oder Ägypten wurden ja auch sehr schnell als Facebook- oder Twitter-Revolution bezeichnet, als hätte es nur diese Technologien gebraucht, um eine Revolution ausbrechen zu lassen. Die eigentlichen Ursachen der Aufstände, der Frust über Perspektivlosigkeit, die wirtschaftliche Not und die jahrzehntelange Erniedrigung durch willkürliche Machthaber*innen wurden damit oft ignoriert.

Mit den Enthüllungen von Edward Snowden oder dem Cambridge-Analytica-Skandal in Großbritannien ist auch vielen Menschen im Westen klar geworden, dass digitale Technologien für politische Machtinteressen und zur Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte missbraucht werden können. Dennoch, das zeigen die aktuellen Ereignisse in Iran, haben soziale Medien nach wie vor eine große Bedeutung für die Zivilgesellschaft und die politische Opposition in autoritären Ländern.

Wie wichtig sind soziale Medien für soziale Bewegungen wie Fridays for Future?

Marcus Michaelsen: Natürlich profitieren auch soziale Bewegungen in demokratischen Ländern von den
sozialen Medien. Auch hier ermöglichen diese Technologien, eine gemeinsame Identität zu finden, sich über Ländergrenzen hinweg zu vernetzen und kollektive Protestformen oder Slogans zu finden. Hinzu kommt, dass gerade Fridays for Future natürlich vor allem von jungen Leuten getragen wird, die ohnehin eine große Affinität zu Plattformen wie Twitter oder Instagram haben und somit viel direkter angesprochen werden.

Nur so war es überhaupt möglich, dass aus einem Schulstreik in Schweden eine weltweite Bewegung mit
vielen lokalen Ablegern wurde. Auch die zentralen Figuren dieser Bewegung wie Greta Thunberg oder in Deutschland Luisa Neubauer setzen digitale Medien sehr geschickt ein, um Journalist*innen zu erreichen und Politiker*innen direkt anzusprechen und somit mehr Aufmerksamkeit für ihre Forderungen zu erzielen.

Wie unterscheidet sich die Wirkweise sozialer Medien bei den genannten Beispielen?

Marcus Michaelsen: Der wesentliche Unterschied ist, dass Bewegungen in demokratischen Ländern von Grundrechten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt sind. Das heißt, sie können auch über die Kommunikation in den sozialen Netzwerken hinaus Organisationsstrukturen aufbauen, Demonstrationen langfristig organisieren, Pressearbeit und Advocacy betreiben, ohne fürchten zu müssen, dass sie verhaftet werden oder aber ein Account, der mühsam eine gewisse Reichweite und Bekanntheit erworben hat, von
heute auf morgen durch eine Zensurbehörde blockiert wird.

Diese Bedingungen sind in autoritär regierten Ländern nicht gegeben. Aktivist*innen müssen ihre eigene
Kommunikation schützen und erst die Zensur umgehen, um überhaupt bestimmte Anwendungen und
Plattformen nutzen zu können. Wenn sie sich öffentlich zu kritisch äußern, müssen sie mit Repressalien
rechnen. Zwar ermöglicht es die Flexibilität und Anonymität des Internets, auch in solchen Ländern Kritik zu äußern und Proteste zu mobilisieren.

Doch häufig sind das eher kurzlebige Ausbrüche lang angestauter Frustrationen, die sich an einem bestimmten Ereignis entzünden, das besonders gut die allgemein herrschende staatliche Willkür verdeutlicht: wie eben der Tod von Mahsa Amini in den Händen der iranischen Sittenpolizei, nachdem sie angeblich ihr Kopftuch nicht richtig getragen hat. Wenn solche Bewegungen sich nicht weiter organisieren und verfestigen können, fällt es schwer, langfristige politische Veränderungen durchzusetzen.