lautstark. 11.02.2022

Schule in der Pandemie: Ein System steht Kopf

CoronaChancengleichheitWissenschaft und ForschungDigitalität im UnterrichtSchulleitung

Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Lernende und Lehrende

Mit Kontaktbeschränkungen und (Teil-)Schulschließungen während der Lockdowns hat die Corona-Pandemie auch tief in Organisation und Ablauf von ­Schule und Unterricht eingegriffen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für ­Lernende und Lehrende? Was braucht es, um das gesamte System Schule besser durch die Pandemie zu bringen?

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2022 | Familie und Sorgearbeit: Zeit für Veränderung
  • Autor*in: Christian Reintjes
  • Funktion: Professor für Schulpädagogik, Universität Osnabrück
Min.

Das Handeln von Akteuren in Krisen wie der Corona-Pandemie ist durch hohen Handlungsdruck bei großer Ungewissheit gekennzeichnet. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in einem hohen Beanspruchungs- und Stresserleben aller Akteursgruppen wider, von Schulleitungen und Lehrkräften über Schüler*innen bis hin zu den Eltern beziehungsweise Familien. Kommunen und Schulen sind in unterschiedlichem Ausmaß von (Teil-)Schulschließungen und Wechselunterricht betroffen. Schulen und Lernende in schwierigen Lagen sind dabei (potenziell) mehrfach benachteiligt: So dokumentieren Auswertungen der auf NRW bezogenen Daten der Corona-Schnellmeldung online (COSMO) für den Zeitraum des angepassten Regelbetriebs von Sommer bis Herbst 2020, dass die (Teil-)Schulschließungen bis Ende Dezember 2020 mit der Schulform und -größe, den kommunalen Inzidenzen sowie dem sozialräumlichen Umfeld zusammenhängen. Es kehrten vor allem solche Schüler*innen in den Distanzunterricht zurück, deren soziale, familiäre, wohnliche und technische Voraussetzungen dafür besonders ungünstig waren.

Präsenzunterricht vor allem für leistungsstarke Schüler*innen

Die unterschiedliche regionale Ausbreitung der Pandemie trifft auf regional, kommunal und einzel-schulisch variierende und durch ebenso unterschiedliche Voraussetzungen geprägte Bewältigungsstrategien bei der Organisation von Schule und Unterricht. Das veranschaulichen die zwei Online-Befragungen „Einzelschulische Bewältigung der Herausforderungen bei der Organisation von Schule und Unterricht nach dem Lockdown (HOSUL 1 und 2)“ von Schulleiter*innen allgemeinbildender Schulen in NRW. Die erste Befragung für die Phase der Wiedereröffnung von Schulen nach dem ersten Lockdown, also ab April 2020, zeigt: Die Notwendigkeit, ausgefallenes Lehrpersonal zu ersetzen, variierte abhängig von Standorttyp und Schulform. Prestigeniedrigere Schulen an sozial benachteiligten Standorten mussten mehr Lehrpersonal kompensieren und berichteten zudem vor allem über eine schlechtere materielle Ausstattung. Es wurden insgesamt 60 bis 75 Prozent des nominalen Unterrichtsvolumens in Distanz angeboten. Dahingegen wurde an Schulen an privilegierten Standorten signifikant mehr Präsenzunterricht erteilt als an Schulen an benachteiligten Standorten, womit die Verschärfung sozialer Ungleichheiten deutlich begünstigt wird. Beim Distanzlernen schlagen die Unterschiede in der technischen Ausstattung, der elterlichen Unterstützung und Kontrolle sowie in den Lernvoraussetzungen und der Kompetenz zum selbstgesteuerten Lernen extrem zu Buche.

Die zweite Befragung wurde im März 2021 nach dem zweiten Lockdown durchgeführt. Sie zeigt, dass das Präsenzvolumen in den unterschiedlichen Abschlussjahrgängen stark variiert und Schüler*innen mit bestimmten Schulabschlüssen priorisiert werden: Während (künftige) Abiturient*innen nahezu das gesamte Unterrichtsvolumen in Präsenz erhalten haben, liegt dieser Anteil beim mittleren Schulabschluss bei zwei Dritteln und beim Hauptschulabschluss nur bei einem Drittel des per Stundentafel definierten Unterrichtsvolumens. Mit etwa elf Stunden je Woche erhalten Hauptschüler*innen in etwa genauso viel Unterricht in Präsenz wie Erstklässler*innen. Diese Priorisierung beim Präsenzunterricht ist nicht vertretbar und benachteiligt diejenigen, die es ohnehin schwerer haben. Dass leistungsstarke Schüler*innen besser kompensieren können, wenn für das Lernen strukturierende und unterstützende Angebote fehlen, ist in der Lehr-Lern-Forschung sicher belegt.

Lernlücken haben beträchtliche Auswirkungen

Durch die coronabedingten (Teil-)Schulschließungen und den inzidenzabhängigen Wechsel zwischen 
Präsenz- und Distanzunterricht belegten nationale und internationale Studien bereits nach dem ersten Lockdown Lernrückstände bei Schüler*innen. Ergebnisse der Lernstandserhebungen 2021 aus Hamburg (KERMIT) deuten in den Grundschulen pandemiebedingt beträchtliche Lernlücken an. Dass Schulschließungen, die es durch Schulstreiks und Sommerferien auch vor der Pandemie gab, negative Effekte auf die Bildungsleistungen haben, ist belegt. Bildungsökonom Ludger Wößmann berichtet zudem von Schätzungen, wonach der Verlust eines Drittelschuljahres – wie in Deutschland im Frühjahr 2020 sowie im Winter und Frühjahr 2021 geschehen – über das gesamte spätere Berufsleben mit durchschnittlich rund drei Prozent geringerem Erwerbseinkommen einhergehen könnten. Auf Basis solcher Projektionen gehen die Bildungsforscherinnen Megan Kuhfeld und Beth Tarasawa davon aus, dass die Schulschließungen infolge der Corona-Krise zu erheblichen Einbrüchen der Kompetenzentwicklung insbesondere in der Grundschule führen dürften. Alarmierend ist, dass insbesondere Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status negativ von den Covid-19-bedingten Schulschließungen betroffen sind, wie beispielsweise die Bildungsforscher*innen Joana Maldonado und Kristof De Witte nachweisen. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit den Vorhersagen über wachsende Lernlücken und additive Lernverluste in den folgenden Schuljahren.

Das Schulsystem wieder auf die Füße stellen

Durch die Corona-Pandemie haben sich auf vielen Ebenen des Schulsystems die Voraussetzungen für professionelles Handeln verändert: durch die Schutzvorgaben des Bundes und des Landes für die Schulen, durch die kommunalen Vorgaben sowie die praktische Umsetzung des Gesundheitsschutzes, durch die Anforderungen an die technische Schulausstattung, für welche die Kommunen zuständig sind, ebenso wie durch die mit Bundesmitteln geförderten kommunalen Möglichkeiten, Förderprojekte für Kinder und Jugendliche zu entwickeln. Für Schulen ist der Präsenzunterricht immer wieder aufs Neue infrage gestellt worden, wobei zusätzlich einzelschulisch unterschiedliche Herausforderungen wie Teilschließungen, Quarantäne und Infektionen hinzugekommen sind. 

Wenn das Schulsystem künftig besser auf (Teil-)Schulschließungen und Distanzunterricht vorbereitet und die bisherigen Folgen der Pandemie adäquat aufgearbeitet werden sollen, scheinen folgende Ansatzpunkte aussichtsreich:

  • Die Rahmenbedingungen, unter denen die Schulen Unterricht organisieren und gestalten mussten, zeigen große standortspezifische Herausforderungen und Planungsunsicherheiten. Instrumente der wissenschaftlichen Aufbereitung bildungsbezogener Daten geraten zunehmend in den Fokus, um Transparenz über das bildungsrelevante Geschehen und die Vorbereitung evidenzbasierten bildungspolitischen Handelns auch auf kleinräumlicher Ebene zu schaffen. Die skizzierten Forschungsbefunde belegen nachdrücklich den Bedarf, (prozessorientiertes) regionales Bildungsmonitoring zu verstetigen, um auf dieser Basis (ungleichheitssensible) regionale, kommunale und institutionelle Handlungsstrategien und Strukturen im Sinne eines nachhaltigen und balancierten Pandemie-Managements zu implementieren. Für die Umsetzung benötigt man vor Ort die kompetente und handlungsbereite intrakommunale, multiprofessionelle und transdisziplinäre Zusammenarbeit von Wissenschaft, Bildungsinstitutionen und Bildungsadministration sowie Willen, Kreativität und Durchhaltevermögen.
  • Die Pandemie zeigt, dass Unterricht nicht die Sache einer einzelnen Lehrperson ist, sondern eine Schulentwicklungsaufgabe. Distanzunterricht sollte nicht nur rechtlich legitimiert, sondern auch bildungspolitisch forciert werden, indem er nicht nur als kurzfristige Interimslösung betrachtet wird. Vielmehr braucht es ein didaktisches Konzept zur Verknüpfung von Präsenz- und Distanzunterricht unter Berücksichtigung einzelschulischer Gegebenheiten. Außerdem müssen Schüler*innen verstärkt befähigt werden, eigenständig zu lernen.
  • Der durch die Covid-19-Pandemie ausgelöste Digitalisierungsschub muss auch (nachhaltig) die Lehrer*innenbildung erreichen. Digitale Medien sind fester Bestandteil in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen und für die berufliche Praxis von hoher Bedeutung. Die Förderung des kritischen und kompetenten Umgangs mit Medien zur Teilhabe an der Gesellschaft und zum lebenslangen Lernen stellt mehr denn je eine zentrale Bildungsaufgabe dar.