lautstark. 11.02.2022

Initiative Familiengrundschulzentren

GrundschuleSchulsozialarbeitMPT – Fachkräfte im multiprofessionellen Team

Multiprofessionalität und Elternangebote an der Pestalozzischule in Gladbeck

Familiengrundschulzentren stärken Eltern und Kinder. Sie wollen gemeinsam Erziehung gestalten und Bildungschancen verbessern. 21 Kommunen in NRW sind bei der Initiative schon dabei. Letzten Sommer ist das Modell in Gladbeck an zwei Standorten gestartet. An der Pestalozzischule ist schon jetzt klar: Wir müssen dran bleiben!

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2022 | Familie und Sorgearbeit: Zeit für Veränderung
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Aus dem Raum über dem Treppenabsatz dringt Gelächter. Kaffeeduft durchströmt den Flur. Das Zimmer am Ende der Stufen wirkt einladend: hell gestrichene Wände, Sitzsäcke, Schokoriegel auf den Tischen. Fünf Frauen sitzen an einer langen Tischreihe zusammen. Gleich neben ihnen, auf der Fensterbank, tummeln sich kleine und große Plastikfiguren vor bunten Häusern – Eltern und Kinder, die einander an den Händen halten. Genau sie sind es, die sich hier auch im wahren Leben wohlfühlen sollen. Es ist Montagmorgen, 9.30 Uhr. Die Frauen im Familienraum der Gladbecker Pestalozzischule kennen sich gut: Gemeinsam arbeiten Mathilde Austermann, Andrea Feirer, Nadine Müller, Julia Winkel und Silke Döding am Konzept der Familienschule, das sie seit Sommer 2021 umsetzen.

Das Konzept der Familienschule leben, Strukturen gemeinsam schaffen

So lebendig wie heute wird es hier in Zukunft regelmäßig zugehen. Elterncafés und Gesprächskreise, Bastelnachmittage und Waldpädagogik am Samstagvormittag – das Team plant vielfältige Angebote für Eltern und Kinder. „Unseren Raum haben wir genau für solche Zwecke gestaltet, als Ort der Begegnung. Dann hat uns Corona leider ziemlich ausgebremst“, sagt Andrea Feirer. Trotzdem sei man optimistisch, bald endlich mehr Veranstaltungen durchführen zu können. „Die Arbeit an einem Jahresprogramm läuft.“

Menschen und Strukturen des Stadtteils sind der Familienschulmanagerin seit vielen Jahren vertraut: 2006 kam sie an die Pestalozzischule, arbeitete dort zuletzt als Leiterin des Offenen Ganztags. Nun entwickelt sie das Profil der neuen Familienschule – in enger Abstimmung mit dem Schulträger und der Schulleiterin Mathilde Austermann. „Vieles, was das Konzept ausmacht, leben wir hier schon seit Jahren, etwa im Bereich der Schulsozialarbeit“, erzählt Andrea Feirer. „Nun geben wir dem Ganzen eine feste Struktur und verschriftlichen die wesentlichen Prozesse. Damit legen wir auch Qualitätsstandards fest, die uns und anderen Schulen als Maßstab für die Arbeit dienen können.“

Eltern gehören zum multiprofessionellen Team in der Familienschule

Zentraler Bestandteil des Konzepts ist das multiprofessionelle Team. Ob Kollegium, Mitarbeitende im Offenen Ganztag, Schulsozialarbeiter*innen, Sonderpädagog*innen oder Sekretariatskräfte: Sie alle leben die Idee der Familienschule und gestalten sie mit. „Dabei richten wir unsere Angebote am konkreten Unterstützungs- und Beratungsbedarf aus. Wir fragen ab, was sich die Familien wünschen, und machen die Eltern zu einem Teil des Teams“, sagt Andrea Feirer. Der Fokus reiche weit über die klassische Mutter-Vater-Kind-Konstellation hinaus. „Es geht darum, alle Menschen im Stadtteil einzubeziehen, egal, wie alt sie sind und in welchem Familienmodell sie leben.“

Familie sei eine wichtige Stellschraube, um Bildungschancen zu verbessern, ergänzt Julia Winkel, Mitarbeiterin im städtischen Amt für Bildung und Erziehung. Das habe die Stadt Gladbeck früh erkannt und danach gehandelt. Im Bündnis für Familie, Erziehung, Bildung, Zukunft arbeiten Stadtverwaltung und gesellschaftliche Gruppen seit 2005 daran, die Situation für Familien zu verbessern. „So ist im Laufe der Jahre eine Netzwerkstruktur entstanden, die es uns auch ermöglicht hat, als eine der ersten Kommunen flächendeckend den Offenen Ganztag einzuführen“, sagt Julia Winkel. Elternarbeit habe dabei von Beginn an eine wichtige Rolle gespielt. „Gerade im Grundschulbereich gibt es viele Gestaltungsmöglichkeiten, die den Kindern zugutekommen. So war die Einführung der Familienschulen für uns nur der nächste logische Schritt.“

Schule hilft Familien direkt in herausfordernden Situationen

Damit das Konzept aufgeht, ist Sprachförderung ein zentraler Bestandteil des Schulalltags. In der Pestalozzischule findet sie regelmäßig im Lesedschungel statt. An den bunt bemalten Wänden schwingen sich Affen von Ast zu Ast. Mogli, Balu und ihre Freund*innen tanzen gemeinsam über die Bücherschränke. Wie die kleine Bücherei funktioniert, erklären Ensar, Lilli, Julie und Hamza aus der 4d bei einer kurzen Stippvisite: „Hier sind die Sachbücher“, sagt Lilli und zeigt auf den Schrank links neben sich. „Und hier die Bücher, geordnet nach Klassen.“ Zielsicher nimmt sie dann „Eine Woche voller Samstage“ aus dem Regal und setzt sich auf einen der roten Lesehocker, die am Rand bereitstehen. Andrea Feirer beobachtet die Szene mit einem Lächeln. „Genau so ist es gedacht: Die Kinder können Bücher ausleihen und spielerisch Spaß am Lesen entwickeln.“ In Zukunft sollen im Lesedschungel auch literaturpädagogische Angebote für Eltern und Kinder organisiert werden.

Die Erfolge des Systems Familienschule seien schon jetzt an vielen Stellen spürbar, darin sind sich die Beteiligten des Gladbecker Modellprojekts einig. „Wir erleben inzwischen immer häufiger, dass Eltern aktiv an uns herantreten und nach Beratung fragen“, betont Schulleiterin Mathilde Austermann. Das mache es leichter, Kinder optimal zu begleiten. „Wenn etwa ein Elternteil unter einer psychischen Erkrankung leidet oder arbeitslos wird, hat das großen Einfluss auf das Lernen. Nun haben wir Ressourcen, um direkt zu helfen, und erfahren viel über die Voraussetzungen, die Kinder mitbringen. Schule, Familie und Elternhaus gehen Hand in Hand – das steigert den Bildungserfolg.“ 

Familienschulen als Antwort auf viele strukturelle Probleme

Auch Julia Winkel, zugleich Mutter an der Pestalozzischule, spürt eine neue Offenheit. „Für uns als Eltern gibt es nun immer niederschwelligere Möglichkeiten, das Schulleben mitzugestalten“, erzählt sie. Das komme auch bei den Kindern gut an. Eine ihrer Töchter habe ihr eines Abends ganz aufgeregt von den Neuerungen in der Schule berichtet: „Mama, Mama, wir sind jetzt eine Familienschule – eine Schule für alle! Wir können jetzt alle zusammen dahin“, habe das Mädchen gesagt. „Für mich hat das sehr eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht, was wir hier erreichen wollen“, betont Julia Winkel.

Ähnlich lobende Worte findet Schulamtsleiterin Silke Döding. „Aus Schulträgersicht würde ich mir wünschen, dass das Konzept auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet werden kann.“ Denn Familienschulen könnten eine Antwort auf viele strukturelle Probleme sein, ergänzt Nadine Müller aus dem kommunalen Bildungsmanagement. „Unterm Strich steigern wir das Wohlbefinden der Kinder und wirken damit Risikofaktoren wie Armut, Sprachschwierigkeiten oder Belastungen von Alleinerziehenden entgegen.“ Die Finanzierung der Modellphase an den beiden Gladbecker Pilotstandorten ist zunächst bis Ende dieses Jahres gesichert – die weitere Zukunft ist unklar. Am Engagement der Beteiligten scheitere es jedenfalls nicht, betont Julia Winkel. „Familienschule ist für uns ein Schwerpunktthema, in das wir viel Zeit investieren. Wir hoffen deshalb, dass wir die neuen Strukturen so bald wie möglich an allen acht Grundschulen der Stadt umsetzen können.“ Denn mehr Familie an jeder Schule ist ein Gewinn für alle.

Familiengrundschulzentren in NRW

Familie im Fokus

Bildungschancen sind in Deutschland immer noch stark von der sozialen Herkunft abhängig. Vor diesem Hintergrund richten Familiengrundschulzentren ihren Blick auf das System Familie. Ansatzpunkt ist das Grundschulalter – eine Phase, in der Eltern besonders viel Einfluss auf den Lernerfolg von Kindern haben. Angelehnt ist das Konzept an die Arbeit von Familienzentren in Kindertageseinrichtungen, die in NRW seit über zehn Jahren gefördert werden.

Interessierte und teilnehmende Schulen können ihre Erfahrungen und ihr Wissen in der „Initiative Familiengrundschulzentren NRW“ teilen. Sie ist aus einem Modellprojekt in Gelsenkirchen entstanden. Dort wurde 2014 das erste Familiengrundschulzentrum in Nordrhein-Westfalen ins Leben gerufen. Träger der Initiative sind die Wübben Stiftung und die Auridis Stiftung. Beide engagieren sich für die Förderung benachteiligter Kinder. In der Initiative stehen sie Kommunen und Schulen zur Seite und unterstützen zugleich den Transfer des Konzepts in andere Bundesländer.