lautstark. 03.02.2021

Kritik an neuen Lehrplänen an Grundschulen

GrundschuleLehrkräftemangelCorona

Prozedere und Inhalte lassen zu wünschen übrig

Mitten in der Corona-Krise will das Ministerium für Schule und Bildung den Prozess für neue Lehrpläne an Grundschulen weiter voranbringen. Die GEW NRW wertet dieses Vorgehen als einen Schlag ins Gesicht. Im Interview zeigt Frauke Rütter, Expertin für Schulpolitik der GEW NRW, deutliche Mängel im Prozedere sowie bei Inhalten der Entwürfe auf.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2021 | Lebensphasen: Jedes Alter gut gestalten
  • im Interview: Frauke Rütter
  • Funktion: Expertin der GEW NRW für Schulpolitik
  • Interview von: Vanessa Glachke
  • Funktion: Redakteurin im NDS Verlag
Min.

Mitte Dezember – zeitgleich mit den Informationen zur Aussetzung der Präsenzpflicht in den Schulen vor den Weihnachtsferien – hat das Ministerium für Schule und Bildung (MSB) das Beteiligungsverfahren der Expert*innen aus der Schulpraxis zur Stellungnahme der Lehrplanentwürfe eingeleitet. Wie bewertet die GEW NRW dieses Vorgehen?

Frauke Rütter: Dieses Vorgehen ist ein Schlag ins Gesicht der Beschäftigten an Grundschulen und wird von der GEW stark kritisiert. Denn für viele Lehrkräfte ist dieses Schuljahr das schwierigste, das sie bisher erlebt haben – geprägt von erhöhter Unterrichtsbelastung, Mehrarbeit und Gleichzeitigkeit von Präsenzunterricht und Lernen auf Distanz. Der gewählte Zeitpunkt zeigt, dass dem MSB nach fast einem Jahr Corona-Pandemie noch immer nicht klar ist, wie belastet die Schulen und die Beschäftigten durch die momentane Situation wirklich sind. Für die Rückmeldung aus der Schulpraxis, aber auch für die Implementation der Lehrpläne ist ein viel zu enges Zeitfenster gesteckt worden. In nur wenigen Wochen soll die Lehrplannovellierung abgeschlossen sein. Für die so wichtige Erarbeitung von Rückmeldungen aus der Schulpraxis zu den Lehrplanentwürfen fehlt es den Kolleg*innen oftmals an Zeit. Stellungnahmen können zum Teil nicht in dem Ausmaß erarbeitet werden, die aber für eine gute und ergebnisoffene Diskussion nötig sind. Ein ausführlicher Austausch kann unter den momentanen Bedingungen nicht geleistet werden. Wirkliche Beteiligung sieht anders aus.

Und wie positioniert sich die GEW NRW zum Zeitplan des MSB, die neuen Lehrpläne zum Schuljahr 2021/2022 einzuführen?

Frauke Rütter: Der eng gesteckte zeitliche Rahmen für die Einführung der neuen Lehrpläne ist dem Umstand geschuldet, dass die Legislaturperiode der jetzigen Landesregierung 2022 endet. Sollte die Einführung der Lehrpläne wirklich zum Schuljahr 2021/2022 erfolgen, wogegen sich die GEW NRW entschieden ausspricht, bedeutet dies einen massiven zusätzlichen Einsatz der Lehrkräfte, die bereits jetzt an ihrer Belastungsgrenze arbeiten. Die Grundschulen sollen die Implementation in einem Schulhalbjahr leisten, das trotz des scharfen Lockdowns zu Beginn des Jahres weiterhin entfernt aller Normalität stattfinden wird. Sämtliche Arbeitspläne, Unterrichtsmaterialien und Zeugnisraster müssten in einem viel zu eng gesteckten Zeitfenster überarbeitet werden. Die Implementation könnte nicht mit der notwendigen Sorgfalt erfolgen, die aber bei einer so grundlegenden Reform unabdingbar ist. Aus Sicht der GEW NRW ist die Einführung der neuen Lehrpläne zu diesem Zeitpunkt als zusätzliche Aufgabe nicht zu leisten.

Sprechen wir mal über die Inhalte: Warum soll es überhaupt neue Lehrpläne geben? Und was sind die grundlegendsten Änderungen?

Frauke Rütter: Die grundlegendste Änderung betrifft die Einführung des Faches Ethik sowie die Verschiebung des Beginns des Englischunterrichts ab Klasse 3 statt wie bisher ab Klasse 1. Grundsätzlich lässt sich die Einführung neuer Lehrpläne an den Grundschulen als zutiefst politisch motiviert beschreiben. Denn durch sie möchte die Landesregierung das durchsetzen, was sie als beste Bildung für den Bereich Grundschule definiert: die Fokussierung auf die Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen mit besonderem Augenmerk auf die Rechtschreibung. Fachliches Lernen soll also gestärkt werden.

Was kritisiert die GEW NRW daran?

Frauke Rütter: Diese Zielsetzung und die damit verbundene Ausrichtung der neuen Lehrpläne verändert die Arbeit an den Grundschulen deutlich. 
So kritisiert die GEW NRW grundsätzlich, dass in den Lehrplanentwürfen nicht mehr die Aneignung der Welt durch das Kind im Mittelpunkt steht, sondern vor allem die Frage, wie Fachwissen so vermittelt werden kann, dass der Anschluss an die Sekundarstufe I erreicht wird. Das MSB bevorzugt die weiterführenden Schulen. Das zeigt sich insbesondere daran, dass die Überarbeitung der Lehrpläne für die Sekundarstufe I zuerst erfolgte und die für die Grundschule nun an diese angepasst werden müssen. Grundschulen sind aber keine bloßen Zulieferer für die weiterführenden Schulen!
Die neuen Lehrpläne für den Primarbereich weisen in den Entwürfen eine stärkere Orientierung an Überprüfbarkeit auf als bisher. Gerade bei Grundschulkindern ist die Entwicklung und die Anwendung von individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten durch das schrittweise Erobern ihrer Umgebung ein Ziel, das sich der Messbarkeit entzieht, aber von großer Bedeutung ist. Die GEW NRW beanstandet, dass dies zurückgedrängt wird und sich die Zielperspektive dadurch ändert.

Die Änderungen der Lehrpläne wurden unter anderem damit begründet, dass sich Anforderungen eines inklusiven Unterrichts besser darin wiederfinden würden. Ist das gelungen?

Frauke Rütter: Das große Themenfeld Inklusion wird in den vorliegenden Entwürfen nur unzureichend behandelt, die Lehrplanentwürfe bleiben deutlich hinter den Erwartungen und Anforderungen für die Weiterentwicklung einer inklusiven Grundschule zurück. Es fehlen Hinweise zur konkreten Umsetzung. Stattdessen muss jede einzelne Schule  ihren eigenen Weg finden. Die GEW ist enttäuscht, dass von den neuen Lehrplänen keine Impulse für gutes inklusives Lehren und Lernen ausgehen.

Was sind die weiteren Schritte der GEW NRW in dem Verfahren?

Frauke Rütter: Die GEW und der DGB-Bezirk NRW haben im Rahmen der Verbändebeteiligung gemeinsam eine detaillierte Stellungnahme zu den einzelnen Lehrplänen abgegeben. Zudem hat die GEW NRW das MSB nachdrücklich dazu aufgefordert, die Einführung neuer Lehrpläne für die Grundschulen und die Änderung der Ausbildungsordnung Grundschule (AO-GS) im Hinblick auf die Stundentafel Englisch zu verschieben.