lautstark. 02.02.2021

Kindheit und Jugend im Wandel der Zeit

CoronaPolitische Bildung

Akteure im Jetzt

Wie und wodurch lassen sich die heutige Kindheit und Jugend definieren? Und vor welchen spezifischen Herausforderungen stehen die Heranwachsenden und warum? Sozialisationsforscher Baris Ertugrul gibt Antworten auf diese Fragen.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2021 | Lebensphasen: Jedes Alter gut gestalten
  • Autor*in: Baris Ertugrul
  • Funktion: Sozialisationsforscher
Min.

Generationsdiagnosen sind bekanntlich ein delikates Unterfangen. Sie lassen wissenschaftlichen Erkenntnissen oft allzu starke feuilletonistische Züge angedeihen. Zu versuchen, ein vielgestaltiges Phänomen auf einen bestimmten Punkt hin auszurichten, verlangt, sehr viel Heterogenität zu verneinen. Das wird nicht einfacher mit Blick auf die aktuelle Forschung. Denn jüngst war die Jugendforschung wieder damit beschäftigt, die flexiblen Grenzen ihres Gegenstands neu zu (ver-)messen – mit dem Ergebnis, dass er eben vielgestaltig und mitunter entgrenzt ist.

Der Preis solcher beabsichtigten Pointierungen erscheint also sehr hoch. Daher ist die Beschreibung einer Generation über den Umweg der Beschreibung ihrer Bedingungen eine Möglichkeit, einige Kennzeichen freizulegen, die sich strukturell für eine bestimmte Generation manifestieren. Die Bedingungen des Aufwachsens in den vergangenen zwei Jahrzehnten erscheinen demnach transformationswütig. Möglicherweise ist gerade diese Veränderungsdynamik der Umwelt das Signum, dass das Aufwachsen einer gegenwärtigen Generation auf verschiedenen Ebenen (Krisen, Digitalität, Politik) bestimmt – und im Bildungsbereich im Umgang damit auf Sicht gefahren wird.

Krisen

Ins kollektive Gedächtnis werden sich die ersten beiden Dekaden dieses Jahrtausends womöglich als Krisenjahre ablagern. Ein Ende dieses Zustands scheint nicht in Sicht. Wirtschaft, Migration, Demokratie, Ökologie – all diese Bereiche sind von Krisen betroffen und werden demnach auch entsprechend im öffentlichen Diskurs behandelt. Zudem haben sie vielerorts – das heißt global – krisenhafte Wirkungen erzielt.

Die 20-jährige Krisenerfahrung, die Beschallung mit und das Erleben von Krisen geht nicht an Heranwachsenden vorbei. Sie sind Teil dieser Welterfahrung.  Und sie sensibilisieren sie für Gesellschaft, Ordnungen und ihre (Un-)Möglichkeiten. Die Corona-Krise wirkt dabei wie ein historischer Höhepunkt: Wenn Alltagsroutinen verändert werden, wird sichtbar, in welchen Konstruktionen wir leben, und welchen Zwang sie ausüben. Und dies bewirkt auch bei Heranwachsenden, nicht nur theoretisch, sondern quasi gesellschaftsnatürlich neue Perspektiven auf Selbstverständlichkeiten zu kultivieren.

Digitalität

Wurde der Prozess der Digitalisierung anfangs mit Aufbruchsstimmung und Ermöglichungsdenken verbunden, so stehen heute unter anderem Beschreibungen wie Unbehagen und Unsicherheit im Vordergrund. Das hat mit dem paradoxen Umstand zu tun, dass wir sehr viel mehr wissen und im gleichen Maße auch das Unwissen über unsere digitale Praxis und ihre Folgen steigt.

In Diskussionen rund um das Thema Digitalisierung und Umgang mit digitalen Medien wird Kindern und Jugendlichen dabei stets eine besondere Rolle zugewiesen. Hierbei werden für das Kindesalter insbesondere Semantiken des Sozialverlusts und der digitalen Überformung bemüht. Als „digitale Einwanderer“ möge sich noch eine letzte Elterngeneration echauffieren, in deren Kindheit der gesellige Spielplatz oder Park bestimmender war als YouTube oder TikTok. Hier zeigt die Forschung zur Corona-Krise, wie die JuCo-Studie und andere aktuelle Studien, dass soziale Plattformen, digitale Echokammern und Kommunikationskanäle den analogen Vergesellschaftungsdrang zwar abfedern, keinesfalls aber ablösen.

Politik

Aufwachsen im vergangenen Jahrzehnt bedeutet, einer autoritär-populistischen Politik kaum entweichen zu können. Aufgefallen im hiesigen Raum sind alternative Ideologeme, entlang von Euro- und Migrationskritik, angereichert unter anderem mit Geschichtsrevisionismus und einer Rückbesinnung auf alte Rollenvorstellungen. Das sind umkämpfte Themen, die im gesellschaftlich-politischen Diskurs weiterhin zur Disposition stehen werden.

Jugendliche dagegen bildeten in der medialen Stilisierung weithin ein liberales Gegengewicht. Bewegung wie Fridays for Future stehen emblematisch  für eine ökologisch gestaltungswillige Jugend, die die Welt "besser" machen will. Die letzte Shell Jugendstudie zeigte gleichwohl, dass Jugendliche populistischen Haltungen nicht abgeneigt sind. Zwischen der Generation Greta und der Generation Populismus formieren sich Kräfte, ebenso wie über ihre Ränder hinaus. Jugendliche sind nicht nur revolutionsbereit, sondern auch regressionsorientiert – zwischen diesen Polen liegt ein weites Feld, das in Bewegung ist.

Zukunftsbildung

Die großen und komplexen Veränderungsschübe sorgen noch gegenwärtig – bei Jung und Alt – sichtbar für Ambivalenzen und Irritationen. Es braucht ein "wertiges Rüstzeug", um die gesellschaftlichen Zumutungen auszuhalten und die daraus resultierenden Veränderungen auf Basis der Demokratie mitzugestalten. Von hier aus ist der Sprung zu Begriffen wie Bildung nicht groß. Schule, in der Bildung "geschehen" soll, erscheint besonders (heraus-)gefordert, einen konstruktiven Umgang mit Krisen und ihren Diskursen, mit Digitalisierung und politischer Persönlichkeitsbildung zu ermöglichen. Und so muss gefragt werden: Sehen wir Schule handlungsfähig? Und mehr noch: Ist sie es?

Schule erschien in der Vergangenheit keinesfalls als verlässlicher Partner, um auf soziale Krisen und Umbrüche zu reagieren. Sie hat sich als Zauberformel kaum bewährt und hat stattdessen sehr viel bewahrt. Ungleichheitsreproduktion ist hier nicht erst seit der PISA-Studie das wohl bekannteste Beispiel. Dass der Umgang mit Digitalisierung in Schulen aus verschiedenen Gründen unzureichend ist, weiß man auch nicht erst seit Corona. Die Gründe dafür liegen sehr häufig nicht innerhalb der Bildungseinrichtungen, sondern bei ihren politischen Gestalter*innen. Und dennoch: als Sozialisationskontext, in dem Heranwachsende den größten Teil ihrer Vergesellschaftung erfahren, vermittelt Schule Zukunft. Was muss erfüllt sein, dass wir jenen Ort imstande sehen, Menschenbildung im emphatischen Sinne zu betreiben, neben Wissen auch Persönlichkeit anzuregen, auf einer Ebene, in der Bildung nicht Lernen ist? In Zeiten von Kompetenz-, Vergleichs- und Output-Orientierung tritt realschulisch der Aspekt der Menschenbildung als abschattiertes Thema auf.

Reproduktion von Ungleichheit bleibt stabil

Bei allem dargestellten Wandel muss – und das nicht zuletzt – notiert werden, dass wir sehr stabile Momente und Muster haben. Die Reproduktion von Ungleichheit, das wird beständig in neueren Untersuchungen aktualisiert, bleibt mindestens stabil – mit immensen, wenn auch veränderten Konsequenzen für das subjektive Erleben von Kindheit und Jugend. Gegenwärtig gehört die Corona-Krise zu den größten die Ungleichheit verstärkenden Momenten. Menschen, die sozial-vulnerabel sind und ohnehin in einer Art Dauerkrise leben, erfahren die Corona-Krise als besondere Belastung; für Schüler*innen kommt der Distanzunterricht dazu. Besonders spannend wird zu beobachten sein, ob und in welcher Weise junge politische Kräfte das Thema der sozialen Ungleichheit für sich entdecken. Also jene, die gerade am Anfang des bewussten Prozesses der Verteilung von Lebenschancen und Karriereentwicklung stehen.

Der verbindende Erfahrungszusammenhang jener frappierenden Transformationen ebnet Generationsfragen in Gesellschaftsfragen ein. In diese Diagnosen gehen dann auch generische Überlegungen von Ist- und Idealzustand ein. Hier geht es demnach um normative Vorstellungen, also um die Frage, was sein soll. Dass dies dem Geruch einer generationalen Ordnung anhaftet, in der die Erwachsenenperspektive mehr gilt als die der Jüngeren, ist in der Forschung ein bekanntes Datum. In der Pandemie aktualisierte sich der Umstand des Auskühlens der Mitbestimmung eindrucksvoll. Das Plädoyer hierfür wäre, ebenjene als Akteure im Jetzt und nicht nur als Handelnde in der Zukunft zu sehen. Das kann der Fluchtpunkt sein, um den man sich politisch und institutionell anders formiert, damit Generation X, Y, Z oder Greta das Rüstzeug garantiert werden kann, einzugreifen.