lautstark. 03.02.2021

Chance und Herausforderung: Altersgemischte Gruppen

Frühkindliche BildungSozial- und Erziehungsdienst

Ein Drahtseilakt mit vielen Chancen in der Freien Kita Dortmund

Von den ersten freien Schritten bis zum Vorschulstart: In der Freien Kita Dortmund kommen 17 Kinder zwischen zwölf Monaten und sechs Jahren in einer Gruppe zusammen. Ein Ansatz, bei dem verschiedene Entwicklungsphasen aufeinanderprallen – und der Vor- und Nachteile für die Kinder, aber auch für die Beschäftigten mit sich bringt.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2021 | Lebensphasen: Jedes Alter gut gestalten
  • Autor*in: Anne Petersohn
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Es dauert nur einen kurzen Augenblick, die Arbeit eines ganzen Vormittags zu zerstören. Mit einer unbeholfenen Handbewegung fegt Leo* (1) über das Schloss aus Holzklötzen hinweg – und das fragile Gebilde kracht in sich zusammen. Mattis blickt auf den Trümmerhaufen und wirkt den Tränen nahe. „Immer machen die Kleinen alles kaputt“, schimpft der Vierjährige und wirft sich in die Arme von Tobias Bischoff. Der Erzieher weckt Verständnis – und spendet Trost.

Situationen wie diese gehören zum Alltag in der Freien Kita Dortmund. Rein Äußerlich wirkt die Einrichtung wie jede andere Kindertagesstätte: vorn eine kleine Garderobe mit Porträts und Namensschildchen, dahinter ein offener Koch- und Essbereich, außerdem ein Schlaf- und Gruppenraum sowie ein Außengelände. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder und Fotos mit fröhlichen Kindergesichtern – Erinnerungen an Ausflüge, die die Großen in jüngster Zeit unternommen haben. Doch gerade jetzt, kurz nach Ende der Eingewöhnungszeit, sind die Anstrengungen der vergangenen Wochen deutlich zu spüren. Der Neustart nach den Sommerferien war in diesem Jahr besonders kräftezehrend – nicht nur wegen Corona.

Herausforderung: neue Vorgaben, alter Personalschlüssel

Sieben Kinder sind neu in die Gruppe gekommen, sechs von ihnen unter drei Jahre. Die beiden Jüngsten – gerade zwölf und 13 Monate alt – konnten sich beim Kitastart nur krabbelnd fortbewegen. „Gerade die Einjährigen leiden anfangs unter der großen Lautstärke und dem Bewegungsdrang der Älteren Kinder. Sie sind verunsichert und brauchen viel Körperkontakt“, sagt Erzieherin Anja Wanders.

Die 54-Jährige und ihre Kolleg*innen geben den Kindern diese Geborgenheit – auch wenn sie dabei manchmal an ihre Grenzen stoßen. „Es kann schon sein, dass ein Kind erst mal ein halbes Jahr auf dem Arm verbringt“, erzählt Anja Wanders. Die stellvertretende Kitaleiterin ist seit 31 Jahren in der Elterninitiative beschäftigt. Früher, erzählt sie, bestand die Gruppe „nur“ aus 15 Kindern, und sie waren mindestens 18 Monate alt. „Doch dann gab es neue gesetzlichen Vorgaben, und wir mussten mehr und auch jüngere Kinder aufnehmen.“ Der Personalschlüssel aber sei bis heute unverändert.

Drei fest angestellte Fachkräfte und eine Köchin versehen täglich ihren Dienst in der Gruppe. Dazu kommen Praktikant*innen und Ergänzungskräfte wie David Opitz. Der angehende Erzieher hat schon in mehreren Kindertagesstätten Erfahrungen gesammelt. „Im Vergleich zu anderen Einrichtungen“, sagt Opitz, „sind wir hier schon gut aufgestellt. Aber trotzdem bräuchten wir noch mehr Personal, um allen gerecht zu werden.“

Großen und kleinen Bedürfnissen gerecht werden

Die Herausforderung, auf alle Kinder einzugehen, beginnt für die Erzieher*innen bereits bei Kleinigkeiten: „In einer Krabbelstube ist der Raum ausschließlich an die Entwicklung der unter Dreijährigen angepasst“, sagt Anja Wanders. „Bei uns muss er auch den Bedürfnissen der Älteren gerecht werden, die mehr Anregungen brauchen. Wir müssen deshalb oft Gefahrenquellen wie liegen gebliebene Scheren oder Kleinteile aus dem Weg räumen, um die Verletzungsgefahr für die Jüngeren zu minimieren.“

Auch Projekte seien im Kitaalltag nur mit größerem Aufwand umzusetzen. Oft gibt es getrennte Angebote für Kinder unter und über drei Jahren. Doch immer wieder versuche das Team, alle Kinder der Gruppe gleichzeitig anzusprechen. „Es muss einem bewusst sein, dass man ein Angebot nicht einfach pauschal in den Raum werfen kann“, sagt Tobias Bischoff. Erzieher*innen bräuchten hier viel Eigeninitiative. David Opitz formuliert es positiver: „Ich muss mir nie Gedanken machen, dass eine Idee nicht passen könnte.“ Unterschiedliche Bedürfnisse in Einklang zu bringen, sei ein Drahtseilakt. Er erfordere die richtige Einstellung – und genaue Absprachen. „Jeder von uns muss mit jedem Kind im Kontakt stehen. Nur so können wir sicherstellen, dass sich beispielsweise die Jüngeren von uns allen problemlos wickeln lassen. Und das muss klappen, wenn es gerade notwendig ist – sonst ist der Alltag gefährdet.“ Das zeigt sich gerade in der Mittagszeit. Dann ist die Personaldecke dünner, weil die Erzieher*innen im Wechsel in die Pause gehen. Die jüngeren Kinder machen ihren Mittagsschlaf, während die „Großen“ nebenan im Gruppenraum ihre Kuschelstunde verbringen. Auch sie sollen in dieser Zeit zur Ruhe kommen. Trotzdem wird es manchmal so laut, dass unter Dreijährige aufwachen und zurück in die Gruppe kommen. Dann ist schnelles Handeln gefragt: „Ich hatte schon Situationen, in denen ich ein einjähriges Kind sofort wickeln musste – und die Großen haben sich in der Zwischenzeit die Gesichter mit Filzstiften angemalt“, erinnert sich Tobias Bischoff.

Erzieher*innen als Beobachter*innen und Begleiter*innen

Neben solchen Pannen gibt es immer wieder Konflikte zwischen den Kindern. „Gerade zu Beginn des Kitajahres finden sich die Rollen in der Gruppe neu – da werden Kräfte gemessen, obwohl die Fähigkeiten ganz unterschiedlich ausgeprägt sind. Wenn sich die Kleineren eingestehen müssen, dass sie etwas noch nicht schaffen, kann das eine Menge Frust auslösen“, erklärt Tobias Bischoff. Die Erzieher*innen verstehen sich hier als Beobachter*innen und Begleiter*innen. „Wir offerieren Perspektiven, um beiden Seiten zu zeigen, was eine Lösung sein könnte“, sagt David Opitz. „Und manchmal finden dann altersübergreifende Spiele oder Situationen statt, die wirklich magisch sind.“

So auch heute: Leo macht sich mit tapsigen Schritten auf den Weg in den Waschraum. Emma eilt hinterher. Die Fünfjährige kümmert sich um den Jüngsten der Gruppe, wann immer sie kann. Liebevoll hilft sie ihm auf den Hocker unter dem Waschbecken, krempelt seine Ärmel hoch und öffnet den Wasserhahn. „Hey, nicht mit Wasser spritzen“, ruft sie, und bleibt trotzdem konzentriert bei der Sache. Erst als Leos Hände sauber und trocken sind, begleitet sie ihn zurück in den Gruppenraum – und weicht ihm vorerst nicht von der Seite. Gerade dieses Durchleben verschiedener Rollen innerhalb der Gruppe sei von großer Bedeutung, sagt David Opitz: „Die großen Kinder entwickeln einen Horizont dafür, dass nicht alle Menschen dieselben Fähigkeiten haben. Umgekehrt nehmen die Kleinen schneller Regeln an, die die Großen kennen und befolgen.“ Und selbst wenn das Team zwischendurch mit den unter Dreijährigen beschäftigt sei, biete das für die Älteren Chancen: „Sie holen sich Aufmerksamkeit von den anderen Kindern und können damit ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen vertiefen.“

Mehr Fokus auf altersgemischte Gruppen wichtig

Hinzu komme der familiäre Charakter der altersgemischten Gruppe, erzählt Anja Wanders: „Wir begleiten die Kinder über Jahre und können sie individuell fördern – das ist aus meiner Sicht der beste denkbare Weg.“ Auch für sich selbst zieht die Erzieherin viel Positives aus ihrer Arbeit: „Zu sehen, wie sich Persönlichkeiten entwickeln, ist einfach schön.“ Und dann sei da noch die große Vielfalt des Arbeitsalltags, ergänzt David Opitz: „Ich habe viele Chancen, mich pädagogisch weiterzuentwickeln.“

Für die Zukunft wünscht sich der 26-Jährige noch mehr Forschung zur Arbeit in altersgemischten Gruppen. Die Ergebnisse könnten in die Ausbildung für Erzieher*innen einfließen und damit stärker als bisher die Arbeitsrealität abbilden. „Vor allem die Herausforderungen, die uns hier täglich begegnen, sollten in den Fokus geraten. Was in den Lehrbüchern steht, bezieht sich meistens auf die Arbeit mit älteren Kindern.“ In seiner schulischen Laufbahn habe er einmal eine Kinderkonferenz für eine Gruppe unter Dreijähriger organisieren sollen. Und das, erzählt der Pädagoge schmunzelnd, sei nun wirklich keine zielführende Idee gewesen. 

*Namen der Kinder von der Redaktion geändert