lautstark. 22.01.2020

Offener Vollzug: Spielzimmer hinter Gittern

BelastungChancengleichheitEntlastungKinder- und Jugendhilfe

Mutter-Kind-Einrichtung in Fröndenberg

In der Mutter-Kind-Einrichtung des Justizvollzugskrankenhauses Fröndenberg leben 16 inhaftierte Mütter im offenen Vollzug zusammen mit ihren Kindern. „Ein Geschenk des Staates“, nennt Anstaltsleiter Joachim Turowski die Einrichtung. Sozialarbeiterin Renate Tertel ist überzeugt, dass Kinder, die hier aufwachsen, die gleichen Bildungschancen haben wie alle anderen auch.

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  • Ausgabe: lautstark. 01/2020 | Kindheit – Starke Kinder, starke Zukunft
  • Autor*in: Iris Müller
  • Funktion: freie Journalistin
Min.

Zwei Mädchen hüpfen an der Hand ihrer Mutter den Weg entlang und erzählen munter von ihrem Tag. Eines der Mädchen  hält eine Barbiepuppe in der Hand, die andere ein pinkfarbenes Plastikhandy. Als sie an ihrem Ziel angekommen sind, schließt sich hinter ihnen die Tür. Sie bleibt verschlossen. Mutter und Kinder sind nämlich nicht nach Hause gekommen, sondern ins Gefängnis. Genauer gesagt in die Mutter-Kind-Einrichtung (MKE) des Justizvollzugskrankenhauses in Fröndenberg. In dieser in NRW einzigartigen Einrichtung des offenen Vollzugs werden Frauen inhaftiert und gemeinsam mit ihren Kindern zwischen null und sechs Jahren auf Anraten der Jugendhilfe aufgenommen. Das Gebäude erinnert kaum an ein Gefängnis.

Vergitterte Fenster gibt es nicht. Wenn man die Bediensteten nach einer Bezeichnung für die einzelnen Räume fragt, sprechen einige von Hafträumen, andere von Appartements. Jeder dieser 30 bis 40 Quadratmeter großen Räume hat ein Bad, einen Balkon und eine Küche. In der Einrichtung ist Platz für 16 Mütter und 20 Kinder. Manche bleiben ein paar Monate, manche jahrelang. Kein Zimmer ist abgeschlossen.

Dennoch fragt die dreijährige Lisa*, als sie an diesem Tag – genau wie die anderen beiden Mädchen – vom Kindergarten abgeholt wird: „Mama, sind wir hier eingesperrt?“ Ihre Mutter verneint und erklärt, dass sie doch rausgehen könne. Das ist nur die halbe Wahrheit. Ausgang haben die Mütter nur, um ihre Kinder in den Kindergarten zu bringen und abzuholen sowie am Nachmittag und teilweise am Wochenende. „Ich erkläre ihr, dass dies unser Zimmer ist und dass wir erst mal hier bleiben“, so die 24-jährige Anna Schmidt* – verurteilt für drei Jahre im offenen Vollzug wegen schwerer Körperverletzung. Zur Tatzeit war sie mit Lisa schwanger.

Trennung von Bindungspersonen vermeiden

Ziel der MKE ist es, die Trennung von Bindungspersonen zu vermeiden. „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Verlustängste Traumatisierungen bei Kindern auslösen können“, erklärt Renate Tertel. Die Diplom-Sozialarbeiterin arbeitet als sozialpädagogische Fachberaterin in der MKE. Wenn die Person fehlt, der das Kind am meisten vertraut, die es tröstet und versorgt, könne das beim Kind zu Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen führen. Um das trotz einer Inhaftierung zu vermeiden, können Mutter und Kind unter bestimmten Voraussetzungen in die Fröndenberger Einrichtung aufgenommen werden.

Das multiprofessionelle, 15-köpfige Team schafft dort einen behüteten, auf die Kinder konzentrierten Raum. „Wir haben alle Bedingungen, damit sich die Kinder prächtig entwickeln“, erklärt Renate Tertel. Das geht nur, wenn die Mütter mitarbeiten und sich an Regeln halten. Die meisten tun das, denn das Damoklesschwert des geschlossenen Vollzugs schwebt über ihnen. Anna Schmidt hat sich am Morgen – so wie alle anderen Mütter auch – angezogen und bei den Bediensteten gemeldet. Das ist eine der Regeln. „Für einige ist es schwierig, eine Tagesstruktur einzuhalten“, erklärt Anstaltsleiter Joachim Turowski.

Danach hat Anna Schmidt ihre große Tochter in den benachbarten AWO-Kindergarten gebracht, wo sie mit nicht inhaftierten Kindern den Vormittag verbringt. Anna Schmidt kümmert sich in dieser Zeit um ihr zweites Kind, die drei Monate alte Marie*  – geboren während der Haftzeit. Für Marie ist das Leben im Gefängnis Alltag. Vormittags gibt es für die Säuglinge eine Spielstunde. Das ist kein Angebot, sondern Pflicht. Eine Erzieherin im Anerkennungsjahr und Renate Tertel singen und spielen mit den Kindern. Die Mütter sind dabei und lernen, wie wichtig die Entwicklung einer sicheren Bindung in den ersten Lebensjahren ist.

Manche Kinder hatten noch nie ein Buch in der Hand

Wer in Fröndenberg aufgenommen wird, darf keine Suchtproblematik und keine diagnostizierten psychischen Krankheiten aufweisen. „Die Erziehungsfähigkeit muss gegeben sein“, erklärt Joachim Turowski. Die Delikte der Mütter? Betrug, Körperverletzung, Bandenkriminalität, Diebstahl. Wegen Mord und Totschlag ist niemand hier. Die Mütter bilden eine heterogene, multikulturelle Gruppe. Es treffen unterschiedlichste Vorstellungen von Erziehung aufeinander. Renate Tertel: „Was sie eint, ist die Liebe zu den Kindern und die Hoffnung auf ein besseres Leben.“ Dafür bekommen sie Hilfen – unter anderem den abendlichen Müttertreff, bei dem Renate Tertel eine große Bandbreite an Themen anbietet und gesellschaftliche Werte und Normen vermittelt: von Drogen- und Suchtproblematik in der Schwangerschaft über Ernährung für Mutter und Kind bis zum Thema Grenzen setzen in der Erziehung.

Die Teilnahme ist Pflicht. „Wir arbeiten ständig an der Basis“, erklärt Petra Döhrn, die in der MKE als Erzieherin und Justizvollzugsbeamtin arbeitet. Die meisten Kinder bekämen hier eine bessere Grundlage für ihren weiteren Bildungs- und Lebensweg, als sie draußen gehabt hätten. Renate Tertel ist überzeugt, dass die Kinder, die in der MKE waren, genau die gleichen Bildungschancen haben wie alle anderen in Freiheit auch. „Wenn nicht sogar bessere“, fügt sie hinzu. Manche Kinder kämen mit fünf Jahren in die Einrichtung und hätten noch nie ein Buch oder eine Schere in der Hand gehabt. Sie kennen keine Spiele und sind nie im Kindergarten gewesen.

Das ist bei Lisa anders. Sie war schon in ihrer Heimatstadt im Kindergarten, kennt die Freiheit. Doch dann ist ihre Mutter, wie sie selbst sagt, „einmal durchgedreht“ und landete erst in Untersuchungshaft und dann in der MKE. „Ich hatte Angst, dass Lisa darunter leidet, was ich gemacht habe“, sagt Anna Schmidt, während die Dreijährige in dem großen Spielzimmer der Einrichtung stolz eine Pizza aus Holz serviert. Je älter sie wird, desto mehr Fragen werden kommen. Was ihre Mutter gemacht hat, warum sie hier ist, das weiß Lisa nicht. „Ich habe Angst, dass sie irgendwann fragt“, sagt Anna Schmidt und senkt den Blick.

Ausgang ist wie ein Sog

„Wir raten zu Offenheit“, erklärt Renate Tertel. Die Kinder würden irgendwann merken, dass es hier anders ist als bei ihren Kindergartenfreund*innen. Sie merken beispielsweise, dass hier niemand Besuch von draußen bekommt und dass Mama immer vorzeigen muss, was sie eingekauft hat. Je älter die Kinder werden, desto mehr Zusammenhänge erkennen sie. Deswegen werden auch nur Mütter mit Kindern aufgenommen, die unter sechs Jahre alt sind. „Schulkinder, die mit ihren inhaftierten Müttern zusammenleben, wären schnell stigmatisiert und ausgegrenzt“, sagt Renate Tertel. Mama habe etwas falsch gemacht und müsse deswegen im Gefängnis sein – so sollten es die Mütter den Kindern erklären, rät die sozialpädagogische Fachberaterin.

Es falle vielen schwer, das zu befolgen, weil sie sich schämen. Anna Schmidt geht es ähnlich. Den Rat weiß sie dennoch zu schätzen, so wie jeden anderen auch. „Ich bekomme immer Hilfe, wenn ich sie brauche“, sagt sie und schaut an der Spielküche und den Puzzlematten vorbei aus dem Fenster. Das ist geschmückt mit Schneemännern. Nachmittags holt sie die Dreijährige vom Kindergarten ab. Alle Mütter der MKE haben nun Ausgang. „Das ist wie ein Sog“, weiß Joachim Turowski. Die Mütter bekommen dann ihre Handys ausgeteilt und alle verlassen das Gebäude. Sie gehen einkaufen, zum Spielplatz oder verabreden sich mit ihren Familien. So schön das alles sein mag, Anna Schmidt ist inhaftiert und spürt das: „Ich vermisse meinen Papa.“

Sie besucht ihn, sooft sie kann, und muss immer wieder Abschied nehmen, um pünktlich zurück zu sein. Denn um 18.30 Uhr geht die Eingangstür zu, der Ausgang ist beendet. „Es ist schade, dass man manchmal nicht länger draußen bleiben kann“, sagt die 24-Jährige. Am Mittwoch bleibt die Tür den ganzen Tag zu. An diesem Tag gibt es vermehrt sozialpädagogische Angebote: Im Kindertreff wird gebastelt, gespielt, gesungen oder ein Film geschaut, Mütter können Erziehungsberatung in Einzelsprechstunden wahrnehmen.

Ruhe, Unterstützung und Zeit für das Kind

„Objektiv betrachtet ist es hier vielleicht schöner als draußen“, sagt Joachim Turowski. Einige kämen aus desolaten Verhältnissen hierher und finden in der MKE erstmals Ruhe, Unterstützung und Zeit für ihr Kind. Er nennt den Aufenthalt „ein Geschenk des Staates“. Doch dann kommt das große Aber: Die Einrichtung bleibe ein Gefängnis. Viele würden zudem keine Vorschriften kennen und fänden es schwierig, sich unterzuordnen. Sich etwa jeden Morgen zu melden, pünktlich zurück zu sein, regelmäßig aufzuräumen und Verantwortung zu übernehmen. Anna Schmidt hat sich eingelebt. Sie versteht sich mit den anderen Müttern und freut sich, dass ihre Kinder immer jemanden zum Spielen haben. Nach der Entlassung will sie mit den Mädchen bei ihrem Papa wohnen. Und dann soll Ruhe einkehren. Ihr Ziel? „Ich möchte für meine Kinder zu Hause einen Kitaplatz finden und dann Rechtswissenschaften studieren.“

Die Mitarbeiter*innen

Das Team des Justizvollzugskrankenhauses setzt sich aus zehn Justizvollzugsbediensteten zusammen. Vier davon haben eine Erzieherinnenausbildung und anschließend die Beamtinnenausbildung absolviert. Diese Kombination ist weitgehend unbekannt, was sich in diesem Bereich als Fachkräftemangel deutlich bemerkbar macht. Außerdem arbeiten in der MKE eine sozialpädagogische Fachberaterin, eine Fachkraft des Sozialdienstes, eine Erzieherin im Anerkennungsjahr, der Bereichsleiter und Joachim Turowski als Anstaltsleiter.