lautstark. 02.10.2020

Lobbyismus an Schule – Die Gefahren der Einflussnahme sind vielfältig

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Lobbyismus an Schulen

Die GEW kritisiert den Lobbyismus an Schulen schon lange. Der coronabedingte Distanzunterricht war ein Türöffner für viele private Anbieter. Im Interview haben wir mit GEW-Schulexpertin Martina Schmerr über die Risiken dieser Einflussnahme sowie über die Forderungen der GEW an die Politik gesprochen. Außerdem gibt sie Tipps, worauf Lehrkräfte bei von Unternehmen bereitgestelltem Material achten sollten.

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  • Ausgabe: lautstark. 06/2020 | Geld – Gute Bildung ist mehr wert
  • im Interview: Martina Schmerr
  • Funktion: Sie ist Referentin im Vorstandsbereich Schule des Hauptvorstands der GEW
  • Interview von: Vanessa Glaschke
  • Funktion: Redakteurin im NDS Verlag
Min.
Foto: Christoph Boeckheler

Finanzstarke Akteure wie Unternehmen erstellen Unterrichtsmaterialien oder gehen Schulkooperationen ein, um sich Einfluss auf Schulen und ihre Inhalte zu sichern. Wie weit verbreitet ist dieses Vorgehen in NRW und bundesweit? Wohin geht der Trend und nimmt dieses Vorgehen eher zu?

Martina Schmerr: Ja, dieser Trend lässt sich seit einigen Jahren beobachten. Aktuell ist die sprunghaft zunehmende Digitalisierung des Lehrens und Lernens 
während der Corona-Pandemie ein Türöffner für die Privatwirtschaft. Dabei geht es schon lange nicht mehr nur um Materialien, sondern um ganze digitale Lernsettings bis hin zu komplexen Kommunikations- und Cloud-Lösungen. Nicht zu vergessen sind zudem die Fälle, bei denen versucht wird, direkt auf bildungspolitische Entscheidungsträger Einfluss zu nehmen. Die Verflechtung von Bildungspolitik und Digitalwirtschaft ist keineswegs regional begrenzt oder zufällig, sondern gedeiht seit einigen Jahren in wirksamen Netzwerken.

Welchen Einfluss nehmen Unternehmen mittels bereitgestellter Lehr- und Lernmaterialien auf die Bildung von Schüler*innen? Und was ist das Problematische daran?

Martina Schmerr: Die versuchte Einflussnahme reicht von schlichter Werbung für Produkte oder Branchen bis hin zur Verbreitung von Meinungen oder Weltbildern. Ein kritischer Blick ist also immer angezeigt – auch die Datensicherheit betreffend. Denn es zeigt sich, dass Lobbyismus auch genutzt wird, um Daten von Schüler*
innen und Lehrkräften zu erhalten. Auffällig plumpe Versuche der Werbung mittels Unterrichtsmaterialien gab es mitunter von Markenartikel- oder Spielwaren-
herstellern.

Aber auch aus der Braunkohleindustrie oder dem Finanzwesen sind unverhohlen einseitige Beispiele bekannt. So vielfältig diese Versuche sind, so vielfältig sind die Gefahren: sie reichen von der Manipulation der jungen Menschen über die Beeinträchtigung des öffentlichen Bildungsauftrags und des Gebots von Ausgewo-
genheit und Pluralität bis hin zur Verletzung der Datenintegrität oder der Persönlichkeitsrechte von Kindern und Jugendlichen.

Wie sollten Lehrer*innen und Schulen mit solchen Materialien umgehen? Was sind mögliche Prüfkriterien dazu, ob das bereitgestellte Material im Unterricht verwendet werden kann oder nicht?

Martina Schmerr: Lehrkräfte sollten zunächst genau hinschauen: Von wem stammt das Material und wer hat es finanziert? Allein das ist manchmal schwer zu ermitteln, weil Firmen und Konzerne ihre Inhalte gern im Mantel von Agenturen oder Stiftungen „verpacken“. Weitere Fragen, die sich Lehrkräfte vor der Verwendung
solchen Unterrichtsmaterials stellen sollten, lauten: Welche Interessen und Deutungen werden hier vermittelt?

Kommen andere Sichtweisen zum Tragen? Was kann ich tun, um die Stunde ausgewogen zu gestalten? Bei offensichtlichen „Übergriffen“ auf den Bildungsauftrag kann man den Personalrat, die Schulleitung oder im Extremfall die Behörden um Unterstützung bitten. Bestenfalls werden kommerzielle Zwickmühlen offen
kommuniziert und diskutiert, im Kollegium oder sogar im Unterricht.

Welche rechtlichen Rahmenbedingungen wären aus Sicht der GEW erforderlich?

Martina Schmerr: Die Schulgesetze müssten da genauer sein. In den meisten Bundesländern ist Werbung verboten, Sponsoring hingegen ist „unter Wahrung des
gesetzlichen Bildungsauftrags“ zulässig. Der Rest ist politische Grauzone und statistisches Niemandsland. Nur in einzelnen Fällen sind die Behörden auf Druck hin
eingeschritten: In drei Bundesländern wurde etwa ein Schreibwettbewerb von Amazon für Grundschulen untersagt.

Die GEW fordert seit Jahren – gemeinsam mit dem DGB –, dass die Kultusministerien wieder mehr Verantwortung für das Lehrmaterial übernehmen. Dies könnte durch eine Monitoringstelle geschehen, die Materialien prüft und Empfehlungen, pädagogische „Beipackzettel“ oder No-Gos veröffentlicht, damit Lehrkräfte sich orientieren können. Freie Anbieter von Unterrichtsmaterialien sollten außerdem zur Transparenz verpflichtet werden. Außerdem bräuchten wir genauere Richtlinien für Public Private Partnerships und Lernpartnerschaften.

Was unternimmt die GEW, um dem Lobbyismus von Unternehmen an Schulen Einhalt zu gebieten?

Martina Schmerr: Wir versuchen, unsere Mitglieder zu sensibilisieren, etwa durch unsere Reihe Privatisierungsreport oder aktuell durch unsere Handreichung Lobby-Check. Wir suchen auch das Gespräch mit der Bildungspolitik hierüber sowie die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren wie Gewerkschaften oder Verbraucher-
zentralen. In vorderster Linie jedoch wäre der Unabhängigkeit von Schulen gedient, wenn die öffentlichen Etats für die schulische Ausstattung und für Lehr-und 
Lernmittel aufgestockt würden. Für eine bessere Bildungsfinanzierung setzt sich die GEW seit vielen Jahren ein.

Darüber hinaus fordert die GEW, dass die öffentliche Hand mehr Verantwortung übernimmt, was die Qualität und Transparenz der Unterrichtsmaterialien oder 
-software betrifft. Eine weitere Antwort auf die Schattenseiten von Lobbyismus und Digitalisierung, wie zum Beispiel inhaltliche Einflussnahme, Kommerz und Datenunsicherheit, hält schließlich die Pädagogik selbst bereit: Alle Kinder und Jugendlichen sollten eine umfassende, kreative und kritische Medienbildung erfahren. Dazu bedarf es mehr Reformen und Ressourcen in der Lehrkräfteaus- und -fortbildung. 

MARTINA SCHMERR arbeitet als Referentin im Vorstandsbereich Schule des Hauptvorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Neben der breiten Palette schulpolitischer Themen gehören zu ihren Arbeitsschwerpunkten auch Medienbildung an Schulen sowie ökonomische Bildung, Privatisierung und Lobbyismus im Schulbereich.